Ein programmatischer Text

Von Josef K. Jünger

Es ist ein Fehler, die Filmgeschichte von ihrem aktuellen Ende, also von heute her denken zu wollen. Und anzunehmen, dass der heutige Zustand der Kinematographie, die schon fast globale und geradezu beängstigende Dominanz des Hollywood-Kinos bzw. die von ihm vermittelten Erzähl- und Sehgewohnheiten, Ziel und Zweck der Filmgeschichte wären. Oder anders gesagt: dass die Filmgeschichte sich konsequent auf diesen Zustand hin entwickelt hätte und diese Entwicklung in der Filmgeschichte angelegt sei.

Die Filmgeschichte weist größere Brüche auf. Beispielsweise hat der kanadische Filmhistoriker André Gaudreault in einem Aufsatz (Kintop Nr. 12, 2003) betont, dass die Pioniere der ersten Jahre um die Jahrhundertwende überhaupt keine Filme drehen wollten. Sie wollten lebende Bilder aufnehmen; der Begriff Film ist auf ihre Produkte nicht anzuwenden!

Ein unübersehbarer Bruch in der Filmgeschichte ist jener vom Stumm- zum Tonfilm. Es gab Verfechter des Stummfilms, die den Tonfilm vehement ablehnten. Von heute aus gesehen, standen sie natürlich auf verlorenem Posten. Charles Chaplin war einer von ihnen. Vollkommen zu recht betonte er, dass seine Figur des Tramps ausschließlich von Pantomime, von Gestik und Mimik leben würde (dt. in Filmkurier; siehe Biografie von Lotte Eisner „Ich hatte einst ein schönes Vaterland“). Jedes gesprochene Wort fand Chaplin überflüssig. Der Tonfilm würde seine Figur zerstören. Das kam dann auch so.

Im deutschen „Filmkurier“ wurde eine jahrelange Debatte um den Tonfilm ausgetragen. Lotte Eisner, Filmkritikerin dieser Zeitschrift, schreibt in ihrer Biografie, der Tonfilm hätte die künstlerischen Bemühungen des Stummfilms um 10 Jahre zurückgeworfen. Lotte Eisner war der Ansicht, und mit ihr zahlreiche deutsche Filmregisseure wie Murnau, Lang u. v. a., die künstlerische Herausforderung bestünde darin, eine Geschichte nur durchs Bild erzählen zu wollen und möglichst wenig Zwischentitel zu verwenden. Es war der deutsche Stummfilm der zwanziger Jahre, der in dieser Hinsicht die hervorragendsten Leistungen erbracht hat, und das ist der Hauptgrund, warum wir hier bisher uns auf deutsche Stummfilme konzentriert haben. Andere Gründe sind die leichtere Beschaffbarkeit deutscher Stummfilme; die Präsentation ausländischer Filme ist meistens mit extrem hohen Kosten verbunden.

Es dürfte nachvollziehbar sein, dass eine Geschichte bzw. ein Film, der nur übers Bild erzählt wird, vom Zuschauer mehr verlangt, als eine Geschichte, die über Zwischentitel, also Text, vermittelt wird. Zwischentitel waren der Weg des geringsten Widerstands und wenn man vor allem auf die Kasse schaute, das Mittel der Wahl. Das amerikanische Kino bevorzugte diesen Weg, so wie auch heute das amerikanische Kino seine Dominanz einer Ästhetik des kleinsten gemeinsamen Nenners zu verdanken hat, mit dem das Publikum weltweit erreicht werden kann. Die Kehrseite der Medaille? Ein riesiger Verlust an Reichtum in formaler und inhaltlicher Hinsicht, weil die nationalen Kinematographien, die viel stärker Stoffe und Formen wählen, die nur ein begrenztes Publikum ansprechen, zurückgedrängt werden.

Selbstverständlich gab es auch im Deutschland der Zwanziger Jahre Regisseure, die handlungsbetonte Filme produzierten. Das soll nicht beschönigt werden. In diesen Filmen musste schon fast notgedrungen viel über Zwischentitel erzählt werden, um eben die „Action“ voranzutreiben. Am augenfälligsten ist dies jedoch tatsächlich im amerikanischen Kino. Selbst bei den Spitzen des Hollywood-Kinos wie Erich von Stroheim findet man relativ viele Zwischentitel.[/vc_column_text][/vc_column_inner][vc_column_inner width=“1/2″][vc_column_text]Die Ausrichtung des amerikanischen Kinos auf handlungsbetonte Filme, mit denen ein breites Publikum am leichtesten zu erreichen war, konnte auch schon frühzeitig beobachtet werden. Zur Ehrenrettung möchte ich auf den oben zitierten Chaplin hinweisen. Es gab und gibt auch ein anderes Kino abseits von Hollywood in den USA.

Natürlich ist das Lesen von Zwischentiteln anstrengend und dem Publikum lästig. So war die Erfindung des Tonfilms wohl fast ein Bedürfnis Hollywoods. Sie machte die leidigen Zwischentitel überflüssig. Ironie der Filmgeschichte: die Erfindung wurde schon Anfang der zwanziger Jahre in Deutschland gemacht, aber erst in den USA zur Einsatzreife entwickelt.

Tonfilm ist Kitsch
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Die künstlerische Herausforderung, eine Geschichte, wie gesagt, durchs Bild erzählen zu wollen, war damit von einem Tag zum anderen hinfällig; Schnee von gestern. Es war dann wieder das deutsche Kino, insbesondere Fritz Langs Film „M eine Stadt sucht einen Mörder“, der aufzeigte, dass auch der Tonfilm künstlerische Leistungen ermöglicht. Sie liegen jedoch auf einer ganz anderen Ebene. Durch Ton und Musik können Figuren charakterisiert werden, es kann mit dem Ton ein Raum in ähnlicher Weise imaginiert werden, so wie das gewöhnlich im Film durch das Bild/die Kamera geschieht. Weiter soll das hier nicht ausgeführt werden.

Wir zeigen also Stummfilme gerade wegen ihres künstlerischen Anspruchs, Geschichten nur durchs Bild erzählen zu wollen bzw. zu müssen. Dieser Anspruch an den Film ist zwar historisch, aber es ist gut, an ihn zu erinnern und diese Film zu zeigen, gerade weil heute viele audio-visuellen Produkte nicht einmal mehr den kümmerlichsten ästhetischen Ansprüchen genügen und nur nach der Kasse schielen.

©: Josef K. Jünger, 2004