Kurze Geschichte des Stummfilmfestivals Karlsruhe

Erzählt von seinem Gründer

Vorgeschichte und erstes Stummfilmwochenende

Begonnen hat es 2002 mit einem Stummfilmwochenende. Vorher hatte es nur gelegentlich Stummfilmaufführungen im Festsaal des Studentenhauses gegeben. Im Festsaal steht ein 35mm-Projektor, dessen Vorführgeschwindigkeit verändert werden kann — eine wichtige technische Voraussetzung. 2002 wurden gerade mal zwei Filme gezeigt, genauer gesagt Kammerspielfilme: „Die Hintertreppe“ von Leopold Jessner/Paul Leni sowie „Scherben“ von Lupu Pick. Damit war eines klar: leichte Kost konnte das Publikum nicht erwarten. Der Anspruch war hoch.

Das Konzept war von Anfang eindeutig: wir wollten den großen Festsaal, in dem über 300 Besucher Platz haben, nutzen und Stummfilmbegleitung mit großen Ensembles versuchen. Eine Pionierin war dabei Cornelia Brugger, die mit ihrer Capella Obscura (diesen Namen erhielt das Ensemble erst lange nach 2002) bis heute (2015) ganz regelmäßig bei den Stummfilmtagen mitwirkt. Weitere Ensembles kamen bald dazu, z. B. das Karlsruher Improvisationsensemble um Holger Ebeling und Ilmar Klahn. Die Ensembles spielen verschiedene Stile, so dass immer auch die Musik ein wichtiger Teil der Aufführungen ist.

2003
Das zweite Stummfilmwochenende 2003 war Ernst Lubitsch gewidmet, von dem wir vier frühe deutsche Stummfilme zeigten; zwei Komödien: „Die Austernprinzessin“ und „Kohlhiesels Töchter“, und zwei Kostümfilme: „Sumurun“ und „Die Augen der Mumie Mâ“. Die überragende Qualität der Komödien bewies sich auch beim Karlsruher Publikum. „Die Bergkatze“ holten wir dann im Programm „Von Caligari zu Metropolis“ im November 2006 nach.

2004 …
bekam die Veranstaltung dann den Namen „Karlsruher Stummfilmtage“. Der studentische AFK (Akademischer Filmclub) wirkte 2004 noch mit und zog sich dann zurück. Wir präsentierten vier Filme von Friedrich Wilhelm Murnau: „Nosferatu“, „Tabu“, „Schloss Vogelöd“ und „Sunrise“. Bei den Musikern wirkten zum ersten Mal die Pianistin Eva Chahrouri und der Pianist Frieder Egri mit. Er gehört bis heute (2015) zum Musikerstamm des Stummfilmfestivals Karlsruhe. 2004 war Karlsruhe im Fieber der Kulturhauptstadtbewerbung. In der Frühphase der Bewerbung hatten auch wir uns mit den Vergaberichtlinien befasst und erfahren, dass Projekte mit Kinder und Jugendlichen ganz besonders wichtig wären. So entstand in Kooperation mit Sylvia Jürges, einer Musikerin und Musiklehrerin des Badischen Konservatoriums, und Ilmar Klahn, einem Violinisten und Musiklehrer, ein Projekt, das viel Mut erforderte: es sollte nicht nur ein Film gezeigt werden, der für Kinder geeignet ist, Kinder sollten auch den Film begleiten. Da es in der Stummfilmzeit noch keine speziellen Kinderfilme gab, war die Suche nach einem geeigneten Film nicht leicht; mit „Dornröschen“ (1917) von Paul Leni wurde jedoch ein perfekt passender Film gefunden. Schließlich begleiteten ca. 70 Kinder in 3 Ensembles den Film. Für dieses Programm erhielten wir erstmals einen Sonderzuschuss der Stadt Karlsruhe.

Anmerkung: das Studentische Kulturzentrum erhielt damals einen pauschalen Projektzuschuss, der dann vom Geschäftsführer des Kulturzentrums auf einzelne Projekte zuordnet wurde, so dass die Stummfilmtage schon vor diesem Jahr als von der Stadt gefördert betrachtet werden können.

2005
Im Jahr darauf, 2005, waren wir bei der Suche nach einem geeigneten Film für Kinder weniger glücklich; es wurden drei Kurzfilme von Chaplin als Programm für Kinder angeboten, die von erwachsenen Musikern begleitet wurden. Das Hauptprogramm war einem Genre gewidmet: wir zeigten vier Straßenfilme; das waren „Die Straße“ von R. Grune, „Asphalt“ von Joe May, „Varieté“ und „Piccadilly“ von E. A. Dupont. Die Stummfilmtage blieben von Pannen nicht verschont: Die Aufführung von „Varietè“ musste aufgrund eines Projektorschadens abgebrochen werden.

Der Film wurde beim nächsten Festival nochmals ins Programm genommen. Schon bei der Vorbereitung des Festivals im Jahr 2005 hatte ich nach einem weiteren Veranstaltungsort gesucht, aber noch nicht gewagt, mit der an sich kleinen Veranstaltung das ZKM anzusprechen. Leider erwies sich eine Durchführung der Stummfilmtage im Landesmedienzentrum aus technischen Gründen als nicht realisierbar.

2006 …
hatten wir rechtzeitig Kontakt zur Geschäftsführerin des ZKM aufgenommen, so dass wir die beiden Hauptfilme des Programms „Von Caligari zu Metropolis“ im Studentenhaus und im ZKM zeigen konnten. Das Programm, das die Entwicklung des expressionistischen Films nachzuzeichnen versuchte, ließ die Besucherzahlen explodieren, so dass wir erstmals mehr als 1000 Besucher zählen konnten. Die beiden anderen Filme waren „Das Wachsfigurenkabinett“ von Paul Leni und „Die Bergkatze“ von Ernst Lubitsch. Im Programm für Kinder konnten wir den frühen Animationsfilm „Die Wunderuhr“ von Ladislas Starewitch (ein aus Russland stammender Pole, der nach Paris emigriert war) zeigen. Ein Programm, das beim Publikum volle Zustimmung fand.

2007
Wegen des Jubiläums des ZKM wurden die Stummfilmtage vom November in den Januar 2008 verschoben. Das Programm „1925 – Ein Jahr im Kino“ war gegenüber den Vorjahren im Umfang deutlich erweitert: wir zeigten zwei Programme, die im ZKM und im Studentenhaus liefen, und jeweils zwei Filme, die nur im ZKM bzw. nur im Studentenhaus aufgeführt wurden. Auf ausdrücklichen Wunsch des ZKM wurde auch das Programm für Kinder im ZKM aufgeführt. Es war der wunderschöne Scherenschnittfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von Lotte Reiniger.

Die Filme des Hauptprogramms waren „Panzerkreuzer Potemkin“, „The Big Parade“, „Lady Windermere’s Fan“ von Ernst Lubitsch, „Varieté“ von E. A. Dupont – auf Chaplins „Goldrush“ mussten wir leider verzichten, dafür kam Murnaus „Der letzte Mann“ ins Programm.

2007/08
Wegen des Jubiläums des ZKM wurden die Stummfilmtage vom November in den Januar 2008 verschoben. Das Programm „1925 – Ein Jahr im Kino“ war gegenüber den Vorjahren im Umfang deutlich erweitert: wir zeigten zwei Programme, die im ZKM und im Studenten-haus liefen, und jeweils zwei Filme, die nur im ZKM bzw. nur im Studentenhaus aufgeführt wurden. Auf ausdrücklichen Wunsch des ZKM wurde auch das Programm für Kinder im ZKM aufgeführt. Es war der wunderschöne Scherenschnittfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ von Lotte Reiniger.

Die Filme des Hauptprogramms waren „Panzerkreuzer Potemkin“, „The Big Parade“, „Lady Windermere’s Fan“ von Ernst Lubitsch, „Varieté“ von E. A. Dupont – auf Chaplins „Goldrush“ mussten wir leider verzichten, dafür kam Murnaus „Der letzte Mann“ ins Programm.

2008/09
Im Sommer 2007 hatte ich mit Dr. Heck, dem damaligen Leiter des Kulturreferats, aus dem mittlerweile das Kulturamt geworden ist, ein Gespräch, bei dem er die Ansicht äußerte, die Stummfilmtage wären ein Bestandteil der städtischen Kultur geworden und hätten ihren rein studentischen Charakter verloren. Dr. Heck schlug vor, die Stummfilmtage in geeigneter Weise zu verselbständigen. Ich diskutierte diesen Vorschlag mit einigen am Stummfilm Interessierten, insbesondere aus dem Kreis der Musiker. Wir kamen zu dem Schluss, einen Verein zu gründen, der zukünftig die Stummfilmtage durchführen sollte. Die Vereinsgründung planten wir zuerst für den 28. Dezember 2007 (am 28. 12. 1895 fanden bekanntlich die ersten Filmvorführungen der Brüder Lumière statt), aber es dauerte länger. Um einige Artikel der Satzung wurde lange diskutiert. Als es schließlich so weit war, fanden wir ein Datum, das eng mit der lokalen Kino- und Filmgeschichte verknüpft war: am 5. September 1896 fanden in Karlsruhe die ersten Vorführungen von Filmen der Brüder Lumière statt; wir gründeten den Déjà Vu – Film e. V. genau 112 Jahre später.

Aus Anlass der Vereinsgründung spielten wir am 6. und 7. September 2008 ein Programm mit Filmen des Frühen Kinos und einer Aufführung eines der wunderbarsten Filme von Ernst Lubitsch: „Die Puppe“. Das Publikum ließ uns aber etwas im Stich. Es folgte eine Zeit intensiver Diskussionen und heftiger Debatten. Einige Vereinsmitglieder wollten die Ausrichtung des Festivals ändern. Der Künstlerische Leiter hatte erhebliche Mühe mit seiner Argumentation, dass er die Karlsruher Stummfilmtage zuerst als Filmfestival verstehe und deswegen Filme nach cineastischen Kriterien auszusuchen und das Programm entsprechend zu gestalten sei. Andere Kriterien erschienen dem Künstlerischen Leiter sachfremd und nicht geeignet, zu einem cineastisch überzeugenden Programm zu führen.

2009
Im Januar spielten wir bei den 7. Karlsruher Stummfilmtagen ein Programm mit dem langen Titel „Georg Wilhelm Pabst – Asta Nielsen – Lulu – Filme“. Es war das bis dahin umfangreichste und auch teuerste, jedoch auch erfolgreichste Programm. Da „Erdgeist“ mit Asta Nielsen ein sehr selten zu sehender Film ist, kamen auch einige Gäste von auswärts. Leider kam es bei der Organisation zu einigen Pannen, so dass der Künstlerische Leiter hinterher vom „verflixten 7. Jahr“ sprach. Vorführungen von Filmen wie „Die Büchse der Pandora“ oder „Tagebuch einer Verlorenen“, aber auch Asta Nielsen als „Räuberhauptfrau“ in „Zapatas Bande“ oder „Engelein“ entschädigten für alle Mühe, so dass dem Künstlerischen Leiter wieder einmal bewusst wurde, warum er ein Stummfilmfestival organisiert.

Zum ersten Mal fand in Kooperation mit dem ZAK, wo der damalige 1. Vorsitzende des Vereins Wolfgang Petroll als Lehrbeauftragter arbeitete, ein Projektseminar statt, so dass wir bei der Organisation einige wertvolle Helferinnen und Helfer hatten. Auf diesem Wege fanden dann Mitglieder zum Verein, die gleichermaßen stummfilmbegeistert sind und seither ihre Kraft und ihre Ideen bei der Organisation der Stummfilmtage mit einbringen. Stefanie Tieste ist aktuell 2. Vorsitzende des Vereins (2015).

Zur Finanzierung der Stummfilmtage konnte erstmals ein Zuschuss der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg in Anspruch genommen werden – allerdings erst nach intensiven Kontakten auf der politischen Ebene und einigen Briefen an Abgeordnete und Ministerien.

2010

Die Stummfilmtage wurden zeitlich nochmals etwas verschoben und fanden vom 11. bis zum 14. März 2010 wieder im ZKM und im Studentenhaus statt. Wir wagten uns an ein rein französisches Programm und spielten „René Clair und Jean Renoir – zwei Poeten des Lichts“. Der schöne Name brachte leider keine neuen Zuschauer; nach dem Erfolg im Vorjahr waren die Karlsruher offenbar etwas stummfilmmüde. Oder war es die Tatsache, dass wir ein Programm spielten, dessen einzelne Titel dem Publikum mehrheitlich nicht geläufig waren? Bei den Programmen davor war es eher umgekehrt gewesen. Trotzdem ist auch dieses Programm mit einigen unvergesslichen Filmerlebnissen verbunden, wie z. B. der Aufführung der langen Fassung von „Paris qui dort“, begleitet von Günter Buchwald mit Ensemble. „Nana“, ein großer aber nicht einfacher Film von Jean Renoir mit einem überragenden Werner Krauss, gehört ebenfalls genannt. Mit Jacques Poitrat, damals noch Redakteur bei ARTE, hatten wir einen Gast, der im Gespräch mit Josef Jünger über die Restaurierung von „Nana“ berichtete. Der Besuch von Jacques Poitrat sollte noch viele positive Folgen zeitigen.

Finanziell gesehen, erwirtschaftete das Festival leider ein Defizit, wodurch die Finanzen des Vereins längere Zeit sehr angespannt waren und nur dank Hilfe von privater Seite vor noch größeren Problemen bewahrt werden konnten.

2011
Nach den personenorientierten Programmen der Vorjahre spielten wir ein Programm mit dem Titel „Einbruch des Phantastischen“. Wir konzentrierten uns im Wesentlichen auf deutsche Filme, nicht zuletzt um die finanziellen Risiken klein zu halten.

Neben Klassikern wie „Nosferatu, „Der Müde Tod“ oder „Orlacs Hände“ gab es auch Entdeckungen wie den einzigartigen „Schatten“ von Artur Robison, einer der besten Filme der 20er Jahre – folgt man Siegfried Kracauer. „Vampyr“ von Carl Theodor Dreyer nahmen wir als Ersatz für „Der Untergang des Hauses Usher“ ins Programm, den uns die Cinémathèque francaise leider nicht zur Verfügung stellen wollte.

Wir machten eine Besucherumfrage, um herauszufinden, welche Filme der typische Karlsruher Besucher sehen will, bzw. um zu sehen, wer zu einem Film wie „Dr. Jekyll and Mr. Hide“ spätabends mit elektronischer Musik kommt: das junge Publikum überwog. Wir erkannten, dass wir aufgrund der Platzierung eines Filmes Einfluss nehmen konnten; die meisten Karlsruher Besucher jedoch am liebsten den deutschen Stummfilmklassiker sehen möchten.

Das Ergebnis macht uns Arbeit für die Zukunft: wir müssen mehrgleisig fahren: Das Karlsruher Publikum muss mit speziellen Angeboten wie dem „Kulinarischen Kino“ und dem „Filmkonzert“ am Samstagabend erreicht werden, für das cineastisch anspruchsvolle Programm mit selten zu sehenden Stummfilmen müssen wir überregionales, nationales, ja sogar internationales Publikum gewinnen. Mit dem Festival in Anères/Frankreich sind wir eine Partnerschaft eingegangen und laden künftig Filme und Musiker aus dem Progamm von Anères ein. Im Gegenzug lädt Anères einen Film unseres Festivals nach Frankreich ein.

2010 hatten wir zum zweiten Mal „ausnahmsweise“, wie es hieß, einen Zuschuss der MFG erhalten. 2011 ging das nicht mehr. Nach einem Meinungsaustausch mit einem maßgeblichen Vertreter der MFG gingen wir eine Kooperation mit der Kinemathek ein. So kamen wir erstmals in den Genuss der üblichen Förderung im Verhältnis 2 : 1, d. h. wir erhielten einen Zuschuss der MFG in Höhe von 50% des städtischen Zuschusses.

Ausblick
(geschrieben 2012)

Plakat Kinderprogramm 2015
10 Jahre Kinderprogramm Plakat nach dem Originalentwurf von Paul Leni (1917)

Das Organisationsteam der Stummfilmtage nimmt die Herausforderungen an, die die Realisierung der Karlsruher Stummfilmtage aktuell und in Zukunft stellt. Wir werden künftig unsere Werbemittel zwischen Pordenone und Paris verteilen – und London und Amsterdam nicht auslassen. Trotzdem: die Karlsruher Stummfilmtage sind (noch) ein kleines Festival. Für das Jubiläumsprogramm erhalten wir erstmals einen Zuschuss in Höhe von mehr als 5000 Euro. Wir möchten das Festival kontinuierlich aber nicht überstürzt ausbauen. Wir sind davon überzeugt, dass die Pflege des kulturellen Erbes im Filmbereich das Publikum nicht nur mit den fast vergessenen Reichtümern aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bekannt macht. Bei fast jedem Gespräch über Stummfilm mit Nicht-Fachleuten müssen wir die Erfahrung machen, dass wir gefragt werden, ob es denn genügend Filme gebe aus dieser Zeit? Allein diese Frage beweist, in welch hohem Maße das Wissen über das Frühe Kino der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und die Glanzzeit des Stummfilms in den 20er Jahren verloren gegangen ist. Es gibt einen weiteren entscheidenden Grund für die Beschäftigung mit dem Stummfilm: nur wer die Vergangenheit kennt, kann über die Zukunft sprechen. Wer die Gegenwart als Nullpunkt nimmt, kennt die eigene Richtung nicht.

Josef Jünger

Nachtrag 2018: es wird Zeit, den Text zu überarbeiten und die Möglichkeiten sowie die Zukunft des Festivals neu zu beurteilen. JJ