Im Jahr 2003 war Daniel Kothenschulte, der auch heute noch regelmäßig für die Frankfurter Rundschau schreibt, beim Filmfestival „Cinema Ritrovato“ in Bologna. Damals schrieb er:
„Filmfestivals gibt es in Deutschland nicht ohne Kungelei. Immer müssen regionale Produktionen aufs Schild und Förderinstitutionen gebauchpinselt werden, was man dann Standortpolitik nennt. Cinephilie aber duldet keine Kompromisse. Gerade endete in München ein Festival, das wie ein Gemüseladen organisiert ist, der nicht einmal zwischen Kraut und Rüben zu unterscheiden weiß. Niemand außerhalb der Stadtgrenzen braucht so ein Festival, aber in Stuttgart, wo man stolz sein müsste auf seine kleine Trickfilmbiennale, trifft man die letzten Vorbereitungen für eine ähnlich konzipierte Mammutschau. Filmgeschichte, jene Dimension, die doch die Standortbestimmung jeder Filmentwicklung sein müsste, spielt in Deutschland auf den beiden A-Festivals eine tragende Rolle – in Berlin und in Oberhausen.
In Italien ist das anders. Zahllose, über das Land verteilte, international fokussierte Festivals widmen sich dem Vergessenen und Verborgenem, und zwar gerade weil das aktuelle so schlecht ist und eine Laufkundschaft hat, die selbst in Universitätsstädten wie Bologna auf Originalversionen verzichten kann. Zwei aufwändige Festivals zeigen ausschließlich alte Filme: Jeden Oktober trifft sich die internationale Filmfamilie im norditalienischen Sacile, zum früher in Pordenone beheimateten Stummfilmfestival. Und am letzten Wochenende ging in Bologna wieder einmal das weltweit bedeutendste Festival für neue Restaurierungen und seltene Archivschätze zu Ende: ‚Il Cinema Ritrovato‘. Es ist eine Frischzellenkur für Filmliebhaber, -historiker und -archivare. Rund ein Dutzend Retrospektiven, die jede für sich einem gewöhnlichen Festival zur Ehre gereichten, bieten eine gut balancierte Mischung aus Klassikern, die man gern einmal in einer guten Kopie wiedersehen möchte und Unbekanntem, das alle Neugier verdient.“
Frankfurter Rundschau, 10. Juli 2003; mit freundlicher Genehmigung des Autors, © Daniel Kothenschulte
Einige Anmerkungen meinerseits:
Die Kritik am Filmfest München ist sehr hart, aber im Kern richtig. Das ist wohl bei jedem Festival so, das Wettbewerbe ausschreibt: man sieht verschiedenste Filme, meistens mehr schlechte als gute; je kleiner und unbedeutender das Festival ist, desto gruseliger oft die Auswahl der Filme.
Das erwähnte Mammutprojekt in Stuttgart ist sehr bald eingestellt worden, weil in Stuttgart Ende Juni niemand ins Kino gehen wollte. Das Trickfilmfestival dagegen besteht nachwievor.
Leider muss ich doch die Aussage, in Berlin und in Oberhausen würde die Filmgeschichte eine tragende Rolle spielen, etwas relativieren. In den letzten Jahren ist die Retrospektive immer mehr in den Hintergrund gerückt, und bei den „Berlinale Classics“ handelt es sich um einige wenige spektakuläre Veranstaltungen. So ist es kein Wunder, dass auch deutsche Filmarchive ihre aktuellen Restaurierungen bevorzugt in Bologna oder in Pordenone dem internationalen Publikum präsentieren.
Die „Giornate del Cinema Muto“ waren nur während der Zeit des Neubaus des Teatro Verdi, dem Veranstaltungsort in Pordenone, temporär nach Sacile umgezogen. Sie finden schon seit vielen Jahren wieder in Pordenone statt.
Die Situation in Italien erscheint mir von Daniel Kothenschulte etwas geschönt zu sein. Es gibt nicht zahllose Festivals, die sich dem Vergessenen widmen. Selbst beim nach Aussage meiner Mitarbeiterin Maria Adorno zweitwichtigsten Festival in Italien, dem Filmfestival Turin, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, einen Gemischtwarenladen besucht zu haben, der fast nur von lokalem und regionalen Publikum besucht wird.
Aber es bleibt die enthusiastische Beschreibung der beiden Festivals in Bologna und Pordenone. Nicht umsonst hat eine der Sektionen in Bologna den Titel „Cinephiles‘ Heaven“.
Josef Jünger

